Bielefelder Opernwunder

Es ist keine Übertreibung:

Bielefeld hat Operngeschichte geschrieben.

Das Stadttheater Bielefeld schnupperte lange Zeit an der großen Opernwelt, machte durch Wiederentdeckungen bedeutungsvoller Werke auf sich aufmerksam.

Nicht ohne die politisch-gesellschaftliche Dimension der Werke zu vergessen, denn Oper wollte auch in der Weimarer Republik (dieser Zeit galten viele Ausgrabungen in Bielefeld) mehr sein als Vergnügen.

Daß die Zeitopern dann doch nicht die erhoffte Resonanz erreichen konnten, steht auf einem anderen Blatt, ändert aber nichts an ihrer musikgeschichtlichen Bedeutung.

Genau 20 Opern wurden im Bielefelder Stadttheater seit 1984 wiederentdeckt.

Abseits des Repertoires wurde für wenig Bekanntes geworben, meist mit Erfolg. Ernst Krenek und Franz Schreker, Erich Wolfgang Korngold und Rudi Stephan haben heute nicht zuletzt dieser Initiative wegen, für die Intendant Heiner Bruns und Chefdenker Alexander Gruber einstanden, einen guten Namen.

(Textauszug von Udo Stephan Köhne)

Mit dem von Bruns engagierten jungen Operndirektor John Dew, dem Chefdramaturgen Alexander Gruber, dem Bühnenbildner Gottfried Pilz und den Generalmusikdirektoren Georg W. Schmöhe und Rainer Koch erlangte die Bielefelder Oper in dieser Zeit einen auch internationalen Ruf, vor allem durch die konsequente Wiederaufführung von Opern der Weimarer Republik (über 20 Werke), der Grand Opera und zeitgenössischer Ur- und Erstaufführungen als "Zeitoper heute".

Im Bielefelder Stadttheater prägten der Intendant Heiner Bruns und der Dramaturg Alexander Gruber die "Bielefelder Dramaturgie", die sich der Wiederentdeckung von Opern verschrieben hat, die durch die nationalsozialistische Kulturpolitik aus dem Bewußtsein verdrängt wurden. Seit 1980 wurden in Bielefeld so viele verlorene und vergessene Opern von Naziopfern wiederaufgeführt, wie nirgendwo sonst.

John Dew mit virtuosen Regie-Ideen und Gottfried Pilz mit stimulierenden Kommunikationsräumen ließen die wieder entdeckten und zum großen Teil mit (auch internationalem) Erfolg aufgeführten Opern zu einem bewegenden Musiktheater-Abend werden. Wenn die beiden innovativen Protagonisten lebenden Musiktheaters ein gemeinsames Projekt in Bielefeld (und auch anderenorts) angingen, realisierten sie jahrelang für das "Opernwunder" exzeptionelle Aufführungen. Aktualisierende Analysen werden zu sinnlich erfahrbaren Zeitbildern: *

Das Bielefelder "Opernwunder" gewinnt neue Dimensionen: hochperfekte Aufführungen unter Leitung des renommierten Regieteams mit Solisten in allen Rollen auf höchstem Anspruchsniveau. Das Bielefelder Publikum feierte die außergewöhnlichen Leistungen seines Theaters mit emotionaler Zustimmung. Die Bielefelder Opernaufführungen konkurrierten oft mit größeren Bühnen; und das erheblich geringer etatisierte Haus mußte keine Abstriche machen. Ein Triumph! Das Bielefelder Rezept, jede Spielzeit drei bis vier Opern der Vergessenheit zu entrei?en, funktioniert. Das Publikum spielt mit - nicht nur das lokale. John Dew und ein blendend aufeinander eingespieltes Ensemble, dessen Leistungen auf und hinter der Bühne immer wieder an Wunder grenzen, haben es geschafft, "ihre Oper" zum Magneten für Leute zu machen, die sich die Neugier auf Stücke bewahrt haben. *

Diese Ära des "Bielefelder Opernwunders" (Luzerner Tagesblatt) hat bundesrepublikanische Operngeschichte geschrieben. Denn Intendant Heiner Bruns, Chefdramaturg Alexander Gruber, der angloamerikanische Regisseur John Dew und Bühnenbildner Gottfried Pilz haben in konsequenter Weise das traditionelle Opernrepertoire, welches fast überall nur aus Mozart, Wagner, Verdi, Strauss und Puccini zu bestehen schien, aufgebrochen. Über 16 Jahre (1978 - 1995) war Regisseur Dew der Bielefelder Oper verbunden. Gerade diese langjährige personelle Kontinuität, welche sich auch auf das Ensemble übertragen ließ, ermöglichte den ungewöhnlichen Spielplan der Bielefelder Oper: Es ging zum einen um das Aufbrechen des Repertoires durch die konsequente Wiederentdeckung eines über 50 Jahre vergessenen Operngenres, der so genannten Zeitoper der Weimarer Republik, zum anderen sollte diese Vorstellung und ästhetische Rehabilitierung eines verdrängten Zweiges der musikalischen Moderne mithelfen, neue unorthodoxe Wege des aktuellen Musiktheaters jenseits der reinen Avantgardezirkel zu gehen. *

So gelangten zahlreiche Opern aus der Zeit der Weimarer Republik, aber auch selten gespielte Werke der französischen Grand Opera auf die Bielefelder Bühne.

Spektakuläre Neudeutungen auch von Opern des Kernrepertoires (C. Gounod: FAUST, R. Strauss: DIE FRAU OHNE SCHATTEN, R. Wagner: LOHENGRIN) sowie Ur- und Erstaufführungen zeitgenössischer Werke kamen hinzu.

Hierzu gehören zum Beispiel:

  • DIE ERSTEN MENSCHEN von Rudi Stephan
  • IRRELOHE von Franz Schreker
  • DER SCHMIED VON GENT von Franz Schreker
  • DER SINGENDE TEUFEL von Franz Schreker 
  • DAS WUNDER DER HELIANE von Erich Wolfgang Korngold
  • FREMDE ERDE von Karol Rathaus
  • ZEMIRE UND AZOR von Andre-Ernest-Modeste Gretry
  • MARIA STUART, KÖNIGIN VON SCHOTTLAND von Thea Musgrave
  • TRANSATLANTIK von George Antheil
  • ARMER COLUMBUS von Erwin Dressel
  • RUH UND FRIEDEN (A QUIET PLACE) von Leonard Bernstein
  • LEBEN DER BOHEME von Ruggiero Leoncavallo
  • NERO von Arrigo Boito
  • FENNIMORE UND GERDA von Frederick Delius
  • DER PROPHET von Giacomo Meyerbeer
  • LA GIOCONDA von Amilcare Ponchielli
  • DER SPRUNG ÜBER DEN SCHATTEN von Ernst Krenek
  • DIE ZWINGBURG von Ernst Krenek
  • DER KREIDEKREIS von Rudolf Mors
  • DIE JÜDIN von Jacques F. Frommental Halevy
  • NIXON IN CHINA von John Adams
  • DIE BALLADE VON BABY DOE von Douglas Moore

Eine kultur- und operngeschichtliche Sternstunde war der Besuch des damals 89-jährigen Ernst Krenek, der am 08. Juni 1989 das Stadttheater Bielefeld anlässlich einer Aufführung seiner Oper DER SPRUNG ÜBER DEN SCHATTEN besuchte, die er seit der Uraufführung am 09. Juni 1924 in Frankfurt nach 65 Jahren zum ersten Mal wieder sah. *

Allerdings haben Intendant Heiner Bruns, Dramaturg Alexander Gruber und Regisseur John Dew diese Werke nicht aus schlechtem Gewissen wieder auf die Opernbühne gebracht, sondern aufgrund der Überzeugung, daß sie es wert sind, auch heute noch aufgeführt zu werden, weil sie dem Opernrepertoire neue Impulse geben können. Bielefeld hat in diesen Jahren Operngeschichte geschrieben. Zahlreiche Opernhäuser haben es danach gewagt, Zeitopern der Weimarer Republik nachzuspielen. Plattenfirmen legten große Editionen von so genannter "entarteter Musik" vor. *

Dieser konsequente Zugriff auf ein fast vergessenes Kapitel der Operngeschichte und dessen konsequente ästhetische Rehabilitierung ist ein singuläres Phänomen in der bundesdeutschen Operngeschichte und bleibt verbunden mit den drei Personen, die es verstanden, ein künstlerisches Konzept über Jahre zu entwickeln und publikumswirksam zu realisieren: Heiner Bruns, Alexander Gruber und John Dew. *

Ich finde es höchst bedauerlich, daß ich seit dem "Bielefelder Opernwunder" in den 80er und 90er Jahren viele dieser Opern nie wieder auf irgend einer Bühne erleben konnte.

DIE ERSTEN MENSCHEN wurden viele Jahre später einmal konzertant im Berliner Konzerthaus aufgeführt.  

LA GIOCONDA findet man auch hin und wieder irgendwo auf den Spielplänen, jedoch viel zu selten.

Auch Schreker schien in den 80ern ein größerer Platz auf den Bühnen eingeräumt, mittlerweile hört man leider wieder recht wenig von ihm und seinen Opern.

Aber was ist mit DER PROPHET oder gar dem WUNDER DER HELIANE? Warum werden diese Opern nie gespielt? Den Opernhäusern und vor allem dem Opernpublikum, den Opernfreunden entgeht phantastische Musik voller Energie und Dramatik.

Es gibt so viele Opern jenseits des Standartrepertoires. Und Entdeckungen müssen ja nicht immer nur Barockopern sein, wie das Opernhaus Zürich dies zu verstehen scheint.

Also her mit Korngolds DAS WUNDER DER HELIANE und her mit Meyerbeers DER PROPHET. Her mit Schreker und Krenek und wie sie alle heißen. Schade auch, dass man nie irgendwo DER SCHMUCK DER MADONNA (I GIOIELLA DELLA MADONNA) von Ermanno Wolf-Ferrari zu sehen bekommt. Her mit diesen Komponisten und ihren Opern, welche wahre musikalische Leckerbissen beinhalten, her mit ihnen, bevor man sie vollends vergißt.

Quelle *: Textauszüge aus dem Buch "100 Jahre Theater Bielefeld", Seiten 37 - 44, Kerber-Verlag